..und ein Kuss an alle!

Viele Grüße und ein Kuss an alle!

Eine Montage in vier Bildern und mehreren Bewegungsqualitäten.

https://www.klassik-stiftung.de/ihr-besuch/magazin/

Screenshot der ersten Doppelseite des Artikels, man sieht verschibene Text-und Bildblöcke, mit vielen weißen Leerstellen dazwischen. Auf der linken Seite sticht groß hervor: "Viele Grüße und ein Kuss an alle."

hier klicken für den gesamten Artikel aus dem Magazin

im folgenden die Textversion ohne Bilder

 

KLACK – der Auslöser.

01/36 Polyperspektivisches

Das Schwarz-Weiß-Foto mit sichtbarer Körnung ist ein Autoportrait (1928), eine Komposition mit Spiegel, längs laufenden Linien, zwei silbernen Kugeln und Florence Henri selbst, mit aufgestützten Ellbogen, verschränkten Armen, dunkler Bekleidung, Kurzhaarschnitt, einige Locken ins Gesicht gestrichen, dunklen Lippen und Augen, die Brauen zwei Linien, die Ränder des Spiegels an ihren unscheinbaren Befestigungen unscharf. Florence Henri blickt ruhig, konzentriert, in das Spiegelbild ihres Arrangements, in ihre eigene Kamera. Die Kugeln unterbrechen die Linien, die sich im Spiegel und davor entlangziehen. Diese ist nur eine der Kompositionen, für die Henri den Spiegel einsetzt. „Das Spiegelbild ist die Metapher für die Lust am Selbst, wie für die Angst vor dem Nichtsein“[1] steht in einem Ausstellungskatalog aus den achtziger Jahren. Einige Bilder sind zusammengesetzt aus zwei Spiegeln, Personen und Objekten aus mehreren Perspektiven, Räumen die sich ineinander verschränkt in Beziehung setzten, später auch mit Collagetechniken. Eine polyperspektivische Sicht auf Welt : „Durch den Kunstgriff der Fotomontage führt uns Florence Henri in eine fragmentierte Dimension der Realität.“[2]

 

RRRRTK – wir ziehen die Kamera auf, den Film ein Stück weiter.

 

Neu aufkommende Kompaktkameras[3] werden Teil der fotografischen Routinen am Bauhaus[4], sie lassen sich leicht bedienen, mit dem Daumen aufziehen, der Film wird weiter transportiert. Sie dokumentieren Leben und Arbeiten, werden zum künstlerischen Tool.

 

RRRRRRZT – KLICK. Die Linse öffnet sich für den Bruchteil einer Sekunde, Licht fällt auf den Film.

 

Die Porträts, die Henri in den gut 15 Jahren ihrer fotografischen Arbeit aufnimmt, zeigen oft nur einen Teil des Körpers, den Kopf, zugewandt, neutral, überlegt. Die Fotografie am Bauhaus als Labor, ein Mittel zum unordnen von Räumen und Geschlechtern. Die Ausschnitte von Gesichtern, Anschnitte vom Torso, Kleidung und Gesten erscheinen nicht eindeutig vergeschlechtlicht, gehen schwerlich in binären Deutungen auf. Die Linse der Kamera öffnet einen Raum des Experiments, eine Möglichkeit, sich zu sehen, zu zeigen, aber auch, sich (neu) zu erfinden, „die Freiheit, unkonventionelle Rollen auszuprobieren.“[5] Vor der Kamera werden Differenzen nicht inszeniert, sondern aufgelöst. Die Montagen, Anordnungen, Anschnitte, Kompositionen sind in ihrer Form dekonstruktiv, sie zersetzen auf produktive Weise.

So porträtiert Florence Henri 1928 Margarete Schall in Paris – Kurzhaarschnitt, Zigarette in der Hand, zur Seite blickend, nachdenklich, ebenfalls konzentriert.

 

KRRRK- Aufziehen mit dem Daumen

 

Margarete Schall und Florence Henri lernen sich 1922/23 im Malatelier von Walter-Kuraus in Berlin kennen und sind ab 1924 zum Teil gemeinsam in Paris an der Académie bei Fernand Léger, wo sie sich ein Atelier teilen. 1927 gehen die beiden für ein knappes Semester ans Bauhaus nach Dessau. Die beiden verbindet aber mehr als eine künstlerische Freundschaft, und schon bei der Wahl eines passenden Begriffes muss ich mich notgedrungen in die unentschlossene Wortwahl der bestehenden Literatur einordnen. Let’s say, sie liebten sich.

Ich lege beide Biografien über- und nebeneinander, zupfe die einzelnen Stränge auseinander, sortiere neu, lasse die Lücken, wo sie sind, umkreise sie und versuche, weiter nach oben zu denken und weiter nach unten zu graben, eine Seitwärtsbewegung zu machen und einen plötzlichen turn, mich auf Spurensuche zu begeben. Ich möchte einige Bilder unordnen und de-sortieren.

KLACK – der Auslöser wird erneut durchgedrückt.

 

02/36 Frei flanierend

 

14, boulevard Edgard-Quinet, 14. Arrondissement, Paris | Ich steige an der Métrostation Raspail aus. Nach links auf den Boulevard Edgar Quinet eingebogen sehe ich schon den Tour Montparnasse über die niedrigeren Häuserzeilen herausragen. Die Sonne scheint und der Schatten der Platanen zeichnet sich als Muster auf den Markisen der Läden ab, die die Straße säumen. Passant:innen mit Taschen und ohne, mit Kinderwagen, mit Kopftuch und Baseballcaps, mit Hemden und Jogginghosen, mit Kippe im Mundwinkel, mit Fahrrad, ein kleiner Dackel. Absätze, die den Asphalt entlang klackern, Lederschuhe, Nikes. An der Ecke bei Maison Edgar ist ab 7:30 offen, für einen ersten café. Eine Viertelstunde zu Fuß ist es von hier zum Jardin du Luxemburg, der schon seit vielen Jahrzehnten ein cruising Ort ist[6], wo sonntags Kinder kleine Segelboote schwimmen lassen in den Wasserflächen rund um hohe Fontänen, wo jeden Tag Spaziergänger:innen unterwegs sind, und der eine oder andere mit einem Buch die Mittagspause verbringt.

Haus Nummer 14 ist ein vergleichsweise niedriges Gebäude, bestehend aus einem Erdgeschoss mit dunkelroten Türen und einer ersten Etage mit schmiedeisernen Balkonen. Die Stadt ist aufgewacht, der Morgen hängt noch in der Luft, Florence und Margarete treten aus dem Haus, sie blicken sich kurz um, wenden sich nach rechts und laufen die Straße Richtung Métro Porte des Vanves.

 

 

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Die Freundin, 1925

 

Hier, boulevard Edgard Quinet, lebt Florence Henri ab 1924.[7] Auch Margarete Schall kann hier nicht weit gewesen sein, sie studieren zusammen und leben vielleicht genau hier zusammen. Beide Lebensläufe lesen sich kosmopolitisch. Florence Henri wird 1893 in New York geboren, nach dem Tod der Mutter lebt sie mit ihrem Vater in Schlesien, Paris, Wien, München, auf der Isle of Wight. Nach dem Tod des Vaters in Rom, zum Musikstudium in London und Berlin, nach dem Wechsel in die Malerei in Berlin und Paris, später führen sie Reisen durch ganz Europa, die letzten Jahre vor ihrem Tod 1982 lebt sie in Bellival mit ihrer Partnerin Jeanne Taffoireau und in Laboissière-en-Thelle, in der Picardie.

Margarete Schall wird 1896 geboren, macht ihre Reifeprüfung und Zeichenlehrerinnenausbildung in Düsseldorf, wird Turnlehrerin in Frankfurt am Main. 1921 lässt sie sich für ein Jahr unbezahlt beurlauben, geht nach Berlin und Paris, 1928 mit einer weiteren Beurlaubung ans Bauhaus Dessau. Sie unternimmt Reisen, nach Südfrank­reich, Italien, Südtirol, Korsika, Spanien, Dänemark, Holland, Österreich und in die Schweiz, was sich in ihrer Malerei, Grafik und Zeichnung[8] zeigt. 1926 wird sie Studienrätin, sie unterrichtet bis zu ihrem Tod 1939 in Essen.[9]

 

„Eine weibliche Flânerie, eine Flâneuserie, verändert nicht nur die Art, wie wir uns im Raum bewegen, sondern greift in die Struktur des Raums selbst ein. Wir fordern unser Recht ein, den Frieden zu stören, zu beobachten (oder nicht zu beobachten) und auf unsere Weise Raum einzunehmen (oder nicht einzunehmen) zu strukturieren (oder zu destrukturieren).“[10]

 

Mir gefällt die Idee von Lauren Elkin, dem Flaneur das alleinige Recht aufs Flanieren zu entziehen, es auch der Flanêuse zuzugestehen. Noch besser allerdings gefällt es mir, Gehen als eine Kartografie mit Füßen zu begreifen und das Streifen durch Räume, Landschaften Städte und Orte als ein Ermessen und Erweitern des Raumes zu begreifen. Der kosmopolitische Charakter beider Biografien ist sicher auch ökonomischen Privilegien zu verdanken, ich würde ihn aber gerne auch als eine Lern-, Studien- und Suchbewegung verstehen, als eine eigene Kartografie, als Mobilität zwischen Freundschaften, Beziehungen, Mentor:innen, Lern- und Arbeitsorten. Wenn das Flanieren um die Jahrhundertwende dem cis-männlichen Dominanzbereich entzogen wird, will ich es als emanzipierten Aufbruch begreifen und die vielen Reisen, Verbindungen und Beziehungen in diesem Licht ausleuchten.

 

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Liebende Frauen, 1929

Dame der Gesellschaft sucht Reisebegleiterin, die Interesse für Automobilsport hat. Evtl Ausbildung dafür. Offerten mit Bild unter 6 an den Verlag.

Der Transvestit, 1924

Ein Brief einer befreundeten Person mit dem Namen Charly vom 19. September 1928, der in dem schlecht erreichbaren Archiv Florence Henri in Genua liegen muss, erzählt uns von einer Reise nach Spanien, die Margarete Schall und Florence Henri zu dieser Zeit gemeinsam unternahmen. Ich kenne dieses andere Foto von ihr, von 1939/40 „Florence Henri au volant de sa voiture“[11] , in dem sie stolz am Steuer eines aus heutiger Sicht antik anmutenden Automobils sitzt und setze die Fragmente in meinem Kopf zusammen.

 

Beide besuchten Freund:innen und Bekannte überall in Europa, wobei wir über Florence Henri mehr wissen als über Margerete Schall. Welche Leidenschaft verband sie mit Grete Willers? Sah sie ihre junge Liebe der 1910er Jahre, Michael von Zadora[12] später wieder? 1931/32 besucht Florence Henri Max Pfeiffer-Watenphul in Rom, der an der Villa Massimo arbeitet und den ich wohl ohne die Sache zu sehr zu strapazieren als eine weitere queere Figur des Bauhauses bezeichnen kann. Sicher ist, dass sie auch 1934 zu einem Besuch zu Margarete Schall nach Essen fährt, was vermutlich nicht das einzige Mal gewesen sein wird? Wo traf sie Jeanne Taffoireau, mit der sie 1963 aus Paris nach Bellival in die Picardie zog, einen alten Bauernhof renovierte und dort einige Jahre lebte?

 

Paris

Wer reist mit? Hilft Parisreise mitfinanzieren. Lagerkarte 170, Postamt 65.

Liebende Frauen, 1928

 

Junge Dame

sehr verwöhnt, sucht liebe Freundin, die unabhängig ist und mit auf Reisen gehen kann. In Frage kommt nur sehr hübsches, junges, gepflegtes Mädchen. Offerten nur mit Bild unter 2506 an den Verlag.

Garçonne Junggesellin, 1930

 

KLICK – Licht fällt auf den nächsten Abschnitt des Negativstreifens

 

03/36 Milieu = Materie, die einen Körper umgibt

 

Ein Bedeutungsgerüst[13]:

  1. Medium; Mitte
    1. A Materie, die einen Körper umgibt
    2. B Juste Milieu; die ‚richtige Mitte‘
  2. Einen Organismus umgebende Elemente
  3. Umgebung; Umfeld; Umwelt des Menschen
    1. A Soziales, räumliches, geistiges, künstlerisches usw. Umfeld des Menschen im Allgemeinen
    2. B Kriminelles Umfeld im Besonderen; organisierte Kriminalität; Unterwelt; auch: das Milieu; Rotlichtmilieu

Der Geburtstag von Florence bietet einen willkommenen Anlass für einen weiteren amüsanten Abend am Bauhaus. Auf dem Bild: Xanti Schawinsky, Josef und Anni Albers, Josst Schmidt, Oskar Schlemmer und noch einige weitere Personen, von denen vielleicht nicht mehr sicher ist, wer sie sind. Der Abend hat früh begonnen und dauert lange, eine Soirée sagt man auf Französisch. Eine Person trägt einen Zylinder, andere Kleider, Hemden, Lippenstift (dunkel), schräg aufgesetzte Hüte, ein Lederschuh ragt aus dem Knäul der Menschen hervor, Freund:innen, Bekannte, Menschen die sich kennen, die gerne gemeinsam feiern, die Arme umeinander gelegt, für die Kamera posierend, aber auch einfach im Moment des Feierns, ein Schnappschuss. Das Klirren von Gläsern, beschwingte Musik, lautes Lachen.

Das Milieu als Materie, die einen Körper umgibt. Das Milieu als eine Art Nährboden, ein Zusammenhang von Menschen mit engen oder weniger engen Verbindungen, die sich kennen, die etwas gemeinsam haben, die sich immer wieder treffen, die gemeinsame Gedanken verfolgen oder auch nicht, sich gegenseitig inspirieren, vielleicht beeinflussen, vielleicht miteinander sexuelle oder romantische, platonische oder polyamouröse Verbindungen pflegen.

 

Eins. Ein Netz spannt sich auf, ein neuronales System von Verbindungen. Biografien bestehen nicht aus einem Menschen, nicht aus einem Helden, sondern als Zusammenhang.

 

Zwei. Das Paar. Die Ehe von Florence Henri war eine Scheinehe, die sie einging für die Schweizer Staatsbürgerschaft. Margarete Schall blieb ledig, das Lehrerinnenzölibat verpflichtete sie dazu,[14] ich stelle es mir gern als Chance vor.

 

Drei. Florence Henri, Margarete Schall, Suzanne Seuphor gemeinsam in Rom. Eigentlich vier. Max Pfeiffer-Watenphul hinter der Kamera, 1931-32.

 

Viele. Ich nehme das Bauhaus als einen von vielen historischen Knotenpunkten an. Ein Netz von Ideen, von Menschen, das sich nach seiner Auflösung 1933 in alle Richtungen weitersponn, in verschiede Zukünfte hinein. Die Auflösung wäre dann eine Erschütterung von Verbindungen, eine Zerstörung der neuronalen Netze, bedingt durch die Gewalt des deutschen Faschismus. Während einige der Bauhäusler:innen ihre Karriere im NS fortsetzten[15], ist die Liste derjenigen, die ins Exil gezwungen wurden oder gar von den deutschen Faschist:innen verfolgt und ermordet wurden, lang. Die Geschichte eines Milieus zu erzählen würde bedeuten, auch die Intersektionen aufzuzeigen, die verschiedenste Facetten der Menschen am Bauhaus: queer, jüdisch, abled oder nicht, Staatsbürgerschaften und Geburtsorte, Migrationsgeschichten, sexuelle Orientierungen und Geschlechtsidentitäten.

 

KRRRRR – Aufziehen und direkt wieder auslösen. TAK.

 

04/36 Das Begehren in kleinen Gesten

 

“Begehren!“ Das kleine Fräulein sprang totenblaß auf, „Nein, ich hätte nicht sprechen sollen. Sie verstehen mich nicht. Sie denken abscheuliche Dinge! Sie sind wahnsinnig! Ich habe es ja gleich gewußt, als ich Sie sah, daß sie ein schlechter und wahnsinniger Mensch sind!“ Das kleine Fräulein schlug entsetzt die Hände vor das brennende Gesicht. Nach einem Schweigen, das nur ihr keuchender Atem erfüllte, fragte Fräulein Dr. Südekum leise mit abgewandtem Gesicht: „Und Sie glauben, daß es das gibt: Liebe zwischen Frau und Frau?“ [16]

 

Die Fotografie hat eine Mitte, der Körper der abgebildeten Person auch – ein schwarzer Gürtel, der um die Taille festgezurrt ist. Gerade locker genug, um nicht unangenehm einzuschnüren, aber fest genug für einen Halt. Auf mich wirkt diese Inszenierung liebevoll. Henri fotografierte Menschen nackt, teilweise für pornografische Magazine, teilweise aber auch nicht. Ich stelle mir vor, dass die Intimität des Bildes darüber entschied, für welches Publikum es gemacht war.[17]

Nu Composition. Ca. 1930. Femme au bord de la mer, 1933 circa. 1935 circa. 1936-38.[18]

Eine Serie von Fotografien zeigt nackte Körper, nur teilweise mit Namen versehen, wie etwa Ré Richter Soupault. Eher runde Formen, nie sind die Füße und Unterschenkel zu sehen, in einigen nähert sich die Kamera dem Gesicht, komponiert mit Kamm, mit Spielkarten, Stoffe im Hintergrund, fallende Haare, nachgezeichnete Augenbrauen, dunkle Lippen, Kurzhaarfrisuren. Auf dem Bild mit Ré Richter Soupault bedeckt ein Netz den angeschnnittenen Oberkörper der Person, eine Brust zeigt sich an der Stelle, wo das Netz aufgerissen scheint. Die Augen sind geschlossen, die Haare nach hinten gekämmt, die Person liegt, der Schatten des Gesichtes bedeckt die Halspartie.

 

„Ich werde niemals wissen, wer die Männer auf diesen Bildern sind“[19], schreibt David Deitcher in seinem Text über ein anonymes, historisches Bild zweier sich zugewandter Männer. Sein Interesse gelte auch nicht der Suche nach den sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen dieses Bildes. Sie nicht zu kennen bedeutet für ihn auch ein befriedigendes Gefühl der Unklarheit, die dem Interesse an dem Bild nicht schadet. „My pleasure centers principally on the appearance of these men and on the object that contains their likeness. My relation to both is therefore akin to flirtation.“

 

Was geht mich die Beziehung zwischen Florence Henri und Margarete Schall an, was gehen mich all ihre privaten Beziehungen an?

Vielleicht nur dies als Ausgangspunkt: ein Flirt mit dem Bild. Wenn ich mir die Porträts von Florence Henri anschaue, diejenigen, die sie von Margarete in Paris aufnimmt genauso wie diejenigen der anonymen Personen, die sich nackt im Bild zeigen, erinnern sie mich an den Moment der Begegnung mit einer anderen queeren Person auf der Straße an einem Ort, wo wir selten sind. Dann gibt es diesen einen kurzen Blick. So schaue ich auf diese Fotografien. Ich suche sie nach Gesten und Andeutungen ab, welches Begehren zeigt sich zwischen der Kamera und der porträtierten Person? Welches zwischen dem vor und dem hinter der Kamera? Als Betrachterin bin ich nah an diesen Körpern, auf Distanz gehalten von den Blicken. Sie kommen aus einer anderen Zeit und adressieren mich in ihrer Queerness doch direkt.

 

Es gibt ein Bild, wahrscheinlich aufgenommen von Georg Muche. Es zeigt Florence Henri und Margarete Schall auf dem Gelände des Bauhaus Dessau 1927, im Hintergrund hohe Schwarzkiefern. Florence Henri stützt sich mit verschränkten Ellbogen auf die Oberschenkel von Margarete Schall und blickt direkt in die Kamera, zweitere sitzt seitlich zur Linse positioniert und hebt den rechten Arm im Moment des Auslösens, unscharf. Die Kurzärmligkeit und das Licht lassen auf einen Sommertag schließen, ich meine die Kiefern riechen zu können, beide sind leicht von unten fotografiert, im Gesicht von Florence Henri meine ich Zufriedenheit und Vertrauen zu sehen. Die Intimität dieses alltäglichen Momentes, vielleicht einer Pause zwischen zwei Kursen, vielleicht ein kurzes Hinwenden für das Foto bei einem unterbrochenen Gespräch, zeigt sich für mich in der Berührung und Bestimmtheit der Unterarme auf dem Stoff des Kleides.

 

RRRRRRRRRRR – wir spulen den Film ein Stück zurück.

 

05/36 Doppelbelichtungen

 

„Die Meyer-Stube. Winzig klein ist sie, draußen im Westen, in der Xantener Straße, diese Miniatur-Bar, und zwei Damen leiten sie. Irgendeine Besonderheit ist an ihr schwer festzustellen…. Und doch hat die „Meyer-Stube“ ihren „Stamm“! Man flüstert von illustren Persönlichkeiten, Gräfinnen, bekannten Künstlerinnen, die sich dort heimisch fühlen und ihren Durst nach – Likör hier zu stillen pflegen. Manchmal ist auch „Dodo“ Gast dort, gern gesehener, lebhaft begrüßter Gast – Dodo, der vollendete Typ der „Garçonne“ – sitzt an der Bar im Smoking, das kohlschwarze, lockige […][20]Haar bauscht sich um ein blaßweißes, scharf profiliertes Gesicht, in das die langen Nächte vorläufig noch keine Spuren gezeichnet haben, und aus dem das eine der tiefsten und schönsten Augen – durch ein Monokel blickt. … Dodo sieht ohne Illusionen ins Dasein und zieht ihre schmalhüftige Jugend wie ein schmerzhaftes Geheimnis durch die lila Nacht von Berlin.“[21]

 

Ich sitze an einem Tisch gleich am Eingang, mit dem Rücken zur Tür. Jedes Mal, wenn jemand die Tür öffnet und das gedämpfte Licht der Bar betritt, spüre ich das nur durch einen kleinen Luftzug im Rücken. Es ist laut, es ist spät und der Rauch ist so dicht, dass ich bald die Menschen nicht mehr scharf sehen kann, die an den hinteren Tischen die Köpfe zusammenstecken.

In dem schon erwähnten Text von Deitcher, in dem das lustvolle Gefühl in der Begegnung mit queeren Repräsentationen der Vergangenheit beschrieben wird, heißt es auch: „As I look at the image of these forgotten men, I fear I can glimpse my future in the past.“[22]. So geht es mir, wenn ich die Bilder aus dem Bauhause sehe, oder die Porträts Margarete Schalls‘ von Florence Henri. So fühle ich es, wenn ich meine eigene queere Gegenwart in den Fotografien aufblitzen sehe – die Zeiten überlappen sich, oder vielmehr bilden sie einen kleinen Wirbel  auf der Oberfläche der Geschichte. In den Bildern steckt ein kleines Stück Dekonstruktion von Geschlecht, ein Funken der De-sortierung und Neu-komposition, ein Aufflammen zukünftiger Möglichkeiten, dem eigenen Begehren freier nachgehen zu können.

Queerness, so José Esteban Muñoz, „is not yet here.” Queerness ist eine Idealität, „a horizon of being.”[23] Sie scheint gegenwärtig auf und zeigt auf Zukünfte, wie sie sein könnten und sollten.

Mein Blick fährt langsam übers Papier der bläulichen Karte und bleibt am Ende der Seite hängen. Florence Henri schrieb sie 1928 an Lou Scheper. „Wenn Sie mögen, kann ich Ihnen mehr Photos senden. Ich möchte schon gerne einen Beruf haben wo die Resultate das Interesse auch anderer erregen. […] Bitte einen richtig spiessigen Brief voller Nachrichten über Sie und Dessau. Viele Grüße und einen Kuss an alle, Monti.“ [24]

 

 

[1] Sello: Spiegelbilder (1982)

[2] Florence Henri. Parcours dans la modernité (2010)

[3] photographic-flux.ch/35-mm

[4] Otto / Rössler: Bauhaus bodies. Gender, sexuality, and body culture in modernism’s legendary art school (2019)

[5] ebd.

[6] Out and About. Queere Sichtbarkeiten in der Sammlung der Berlinischen Galerie (2019//2020)

[7] Rausch : Florence Henri. Miroir des avant-gardes (2015)

[8] uni-erfurt.de/forschung/aktuelles/forschungsblog-wortmelder/vergessene-bauhausfrauen-margarete-schall-die-schule-verliert-eine-ihrer-wertvollsten-lehrkraefte

[9] Vergessene Bauhaus-Frauen. Lebensschicksale in den 1930er und 1940er Jahren (2021)

[10] Elkin / Röser: Flâneuse. Frauen erobern die Stadt (2018)

[11] Rausch : Florence Henri. Miroir des avant-gardes (2015)

[12]  fembio.org/biographie.php/frau/biographie/florence-henri

[13]  zdl.org/​wb/​wortgeschichten/​Milieu

[14] Vergessene Bauhaus-Frauen. Lebensschicksale in den 1930er und 1940er Jahren (2021)

[15] ebd.

[16] von Urbanitzky: Der wilde Garten (1927)

[17] Otto / Rössler: Bauhaus bodies. Gender, sexuality, and body culture in modernism’s legendary art school (2019)

[18] Martini: Florence Henri (2015)

[19] Deitcher: Looking at a photograph, looking for a history (1998)

[20] Das Z-Wort wurde hier aus Gründen der Diskriminierungssensibilität herausgenommen

[21] Roellig: Berlins lesbische Frauen (1928)

[22] Deitcher: Looking at a photograph, looking for a history (1998)

[23] Muñoz: Cruising utopia. The then and there of queer futurity (2019)

[24] Martini: Florence Henri (2015)